Projektmanagement und Marketing in einem Satz? Das gibt’s nicht sooo oft… denn Marketing-Projekte sind gern mal strubbelig. Das ist sogar verständlich, denn Kreativität lässt sich nicht gern in starre Projektmanagement-Systeme zwingen. Nicht mal Scrum eignet sich immer, denn du hast einfach zu selten feste Teams, die 2 Wochen am Stück an einer Großaufgabe arbeiten – zu ungleich verteilt sind Workloads und gegenseitige Mikro-Abhängigkeiten zwischen Design / Content, Tech und Abstimmungen.
Gerade in Matrixorganisationen, wo verschiedene Abteilungen und externe Dienstleister zusammenarbeiten, braucht es einen klaren Rahmen. Schauen wir uns zwei etablierte Standards mit staatlichen Wurzeln an, nämlich PRINCE2 (UK) und V-Modell® XT (Deutschland), genauer an und finden heraus, welcher sich besser für Marketing-Projekte eignet. Man ahnt es schon: PRINCE2 ist flexibler. Und um das Shusa-System geht’s auch gleich, das ist eine spannende Alternative!
Grundlegende Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Aspekt | System | PRINCE2 | V-Modell® XT | Shusa-System |
Ursprung | UK, öffentlicher Sektor | Deutschland, öffentlicher Sektor | Japan, Toyota |
Fokus | Universell einsetzbar | IT-lastig, prozessorientiert | Produktentwickung & Produktion |
Struktur | 7 Prinzipien, 7 Themen, 7 Prozesse | 4 Submodelle, modularer Aufbau | Produktzentiert |
Rollen | Klar definiert, flexibel skalierbar | Sehr detailliert, umfangreich | Starker Einzelentscheider, in Matrix |
Dokumentation | Pragmatisch, anpassbar | Sehr formal, umfassend | Lean, visuell |
Anpassbarkeit | Explizit vorgesehen | Möglich, aber aufwendiger | Flexibel, marktorientiert |
Das Shusa-System als Alternative
Ein interessanter dritter Ansatz ist das bei Toyota entwickelte Shusa (Chefingenieur) System. Dieses unterscheidet sich fundamental von PRINCE2 und V-Modell® XT: Es gibt einen relativ mächtigen (bzw. oft de facto machtlosen) Projektverantwortlichen, der im Gegensatz zu fachfremden Project Executives / Product Ownern richtig Ahnung von der Materie hat. Er trifft vor allem Richtungs- und Mangelverwaltungs-Entscheidungen, ist aber kein Fachvorgesetzer (= „Beförderungsgeber“) von z.B. Designern. In den Medien gibt es etwas Ähnliches, nämlich das System der Chefredakteure.
Vorteile für Marketing-Projekte:
- Klare Vision
- Ein Shusa übernimmt die volle Verantwortung für den Projekterfolg
- Direkte Kundenorientierung bzw. am Kundennutzen
- Schnelle Entscheidungswege
- Ganzheitlicher Ansatz
- Integration von Technik und Marketing
- Durchgängige Customer Experience
- Konsistente Markenkommunikation
- Lean-Prinzipien
- Fokus auf Wertschöpfung
- Vermeidung von Verschwendung
- Kontinuierliche Verbesserung
Besonders geeignet für:
- Produkt-Launch-Kampagnen
- Markenrepositionierung
- Integrierte Kommunikationsprojekte
Das Shusa-System könnte vor allem dort interessant sein, wo Marketing eng mit Produktentwicklung verzahnt ist. Ein „Marketing-Shusa“ würde beispielsweise die gesamte Customer Journey verantworten und alle relevanten Aspekte von der Marktforschung über die Markenpositionierung und Kampagnen bis zur After-Sales-Kommunikation koordinieren.
Hybride Ansätze:
Du könntest Elemente des Shusa-Systems mit PRINCE2 kombinieren:
- Shusa als Product Owner/Project Executive
- PRINCE2-Struktur für Governance
- Lean-Dokumentation und Visual Management
Marketing-spezifische Vorteile von PRINCE2
Für Marketingaufgaben bietet PRINCE2 als vielseitiges Framwork einige klare Vorteile:
- Markenpositionierung-Projekte
- Flexible Stage-Gates für verschiedene Stakeholder-Abstimmungen
- Einfache Integration von Marktforschung, Werbeagentur, Marketing-Freelancern und Feedback
- Schnelle Anpassung bei sich ändernden Marktbedingungen
- Klare Kommunikationswege durch definierte Rollen
- Gute Skalierbarkeit für kleine und große Kampagnen
- Effektives Change Management bei kreativen Prozessen
- Digitalkampagnen
- Elemente aus dem agilen Projektmanagement integrierbar
- Schnelle Entscheidungswege – im Online Marketing bzw. Performance Marketing sehr wichtig
- Gute Balance zwischen Planung und Flexibilität
- CRM-Projekte
- Strukturierte Stakeholder-Einbindung (z.B. per RACI-Matrix), da es viele Projektbeteiligte aus den Bereichen Content und Technik gibt
- Klare Qualitätskriterien (KPIs)
- Risikomanagement für sensible Kundendaten (DSGVO, bei Marketing-Automatisierung per KI auch KI-Gesetz etc.)
- Shop- & App-Entwicklung
- Iterative Entwicklung möglich
- Business Case im Fokus
- Gute Integration technischer und Marketing-/Branding-Aspekte
Das V-Modell® XT hingegen punktet bei:
- Sehr formalen Anforderungen, u.a. bei sicherheitskritischen (IT-)Projekten
- Hoher Dokumentationstiefe – das ist durchaus attraktiv, wenn man sich z.B. Software extern oder in Zusammenarbeit mit Externen entwickeln lässt und im Tagesgeschäft intern pflegen will
- Komplexen technischen Abhängigkeiten, ein „ziviles“ Beispiel könnte ein zu erstellendes Zusammenspiel von Marketing-, CRM-/CX-, ERP- und IoT- / Industrie 4.0- Systemen sein.
Management von Teilprojekten
Für Marketing-Teilprojekte empfehlen sich oft ergänzende Methoden. Denn: Vor allem PRINCE ist schon recht high-levelig, während im Doing einfach massenweise Aufgaben abgehakt werden müssen, im Rahmen von echter Arbeit (für die, die’s nicht mehr kennen: Das ist die Zeit zwischen Meetings, an denen man ein Produkt herstellt)!
- PMP/PMBOK. Ideal für:
- Große internationale Kampagnen
- Komplexe Markteinführungen
- Umfassende Markenberatungs-/Rebranding-Projekte
- Scrumban. Besonders geeignet für:
- Social Media Kampagnen
- Content Marketing
- A/B-Testing
- Weitere empfehlenswerte Techniken:
Kanban
- Ideal für laufende, kleinteilige Marketing-Aufgaben
- Content-Planung und -Produktion
- Kleinteiliges Social Media Management (Multi-Plattform-Redaktionsplan abarbeiten etc.)
Design Thinking
- Entwicklung neuer Marketing-Konzepte
- Zielgruppen-Research
- Customer Journey Mapping
OKR (Objectives and Key Results)
- Strategische Marketing-Planung
- Performance Marketing
- Campaign Tracking
Tipps für die Praxis
Für die meisten Marketing-Projekte empfiehlt sich PRINCE2 als Framework, das du je nach Bedarf anpassen kannst:
- Kleine Projekte (< 3 Monate)
- Vereinfachtes PRINCE2
- Kanban für operative Aufgaben
- Wöchentliche Standups – also einen „Jour Fixe“
- Mittlere Projekte (3-6 Monate)
- Standard PRINCE2
- Scrumban für kreative Teilprojekte
- Monatliche Stage Gates
- Große Projekte (> 6 Monate)
- Vollständiges PRINCE2
- Kombination mit PMBOK für internationale Aspekte
- Quarterly Reviews
- Unter „großes Projekt“ fällt teils auch das „Tagesgeschäft“!
Fazit
PRINCE2 bietet für Marketing-Projekte die bessere Ausgangsbasis als das V-Modell® XT. Die Flexibilität und Skalierbarkeit von PRINCE2 passen besser zu Kreativprozessen. Das V-Modell® XT kann jedoch bei stark IT-getriebenen Projekten wie komplexen Shop-Systemen, Apps oder Multi-Schnittstellen-Projekten sinnvoll sein.
Das Shusa-System solltest du im Hinterkopf behalten, insbesondere wenn es um ganzheitliche Produkt- und Markenexperience geht. Die Kombination eines fachlich fitten Visionärs an Spitze mit schlanken Prozessen kann vor allem bei innovativen Projekten Vorteile bringen und für eine attraktive „Handschrift“ sorgen – denke an den Ex-Chef der Computerfirma mit dem angebissenen Stück Obst als Logo. Allerdings erfordert dieser Ansatz eine entsprechende Unternehmenskultur und sehr erfahrene Führungskräfte: Wenn der Shusa fachlich und menschlich versagt, wird’s haarig. Die Shusa-Teilrollen könnten auch auf ein kleines Gremium aufgesplittet werden.
Erfolgstipps für dein Marketing-Projektmanagement:
- Wähle PRINCE2 als Basis-Framework.
- Ergänze agile Methoden für kreative Teilprojekte – immer dran denken: „People over processes and tools“. Zwinge ungeschulte Leute nicht in Confluence etc.
- Nutze Kanban für operative Marketing-Aufgaben (und es spricht auch nichts gegen Timing-Pläne mit Gantt-Charts).
- Implementiere OKRs für strategische Ausrichtung.
- Integriere Design Thinking für Innovationsprozesse.
- Prüfe, ob Elemente des Shusa-Systems für deine Organisation passen – besonders bei produkt- und innovationsgetriebenen Marketing-Projekten.
Wichtig ist, dass du die Projektmanagement-Methode an deine Projekt-Bedürfnisse anpasst. Ein pragmatischer Mix aus verschiedenen Ansätzen führt oft zu den besten Ergebnissen.
Denke daran: Die beste Methode ist die, die von deinem Team verstanden und gelebt wird. Investiere Zeit in Training und Change Management, um die gewählten Systeme erfolgreich in den Alltagstrott reinzubringen. Denn: Wenn du PRINCE2 anwendest, aber sonst niemand davon Ahnung (oder Lust drauf) hat, wird’s schwer.
Über den Autor
Stefan Golling, Köln. Seit 2011 Freelance Creative Director, freier Texter, Creative Consultant und Online-Marketing-Berater mit Kunden von Mittelstand bis S&P 500. Erfahrung: 1998 mit Radiowerbung in Stuttgart gestartet, 2000 als Junior-Werbetexter zu Publicis München, 2001 Counterpart Köln, 2002 als Copywriter zu Red Cell Düsseldorf (heißt heute Scholz & Friends), dort ab 2007 Creative Director.
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